BODYSTYLER: Zwischen 2011 und 2016 hast Du bereits diverse Singles und EPS veröffentlicht. Beschreibe bitte diese Zeit aus Deiner Sicht und erkläre kurz, warum aus diesen vielen Releases nie ein Album resultierte?
ULF MÜLLER: Die Gründung von Projekt Ich wurde ja bereits im Frühjahr 2005 vollzogen. Auslöser war eine Zeit, in der es mir lange gesundheitlich nicht gut ging und mein Leben streckenweise immer monotoner und einsamer wurde, einfach aus den Fugen geriet. Da ich aus meiner Vergangenheit her wusste, dass mich das Hören oder das Machen von Musik emotional aufrüttelt, beflügelt und zum Teil sogar von gewissen Lasten befreit, entschloss ich mich zu versuchen, mit Hilfe von Computer und Software Equipment mit Projekt Ich elektronische Musik zu produzieren. Die von Dir angesprochenen EPs waren im Prinzip allesamt ein Experimentieren mit Sounds und Stimmen gepaart mit vielen FXs. So entstanden auch die ersten beiden EPs „Sieben Tage im November“ und „Netzmensch“, jeweils mit sieben Titeln bestückt, welche von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung NUR sieben Tage Produktionszeit verschlungen. Damals war ich sehr viel unterwegs, um verlassene Orte - überwiegend in Sachsen-Anhalt oder NRW - zu erkunden, um Bilder und Töne festzuhalten. Das alles war extrem, aufregend und inspirierend für mich, so dass sämtliche Eindrücke dieser urbanen Erlebnisse in die von mir erstellten, zumeist düsteren, experimentellen Klanglandschaften einflossen. Eine richtige CD-Veröffentlichung mit Label, Vertrieb und Promotion war mir zum damaligen Zeitpunkt einfach nicht von Bedeutung, weil das, was ich musikalisch machte, für mich eine Art Direkt-Therapie war.
BODYSTYLER: Nachdem Du zunächst selbst am Mikro gestanden hast bzw. viele Instrumentale von Dir geschrieben wurden, verfolgt Dein Debüt-Abum einen gänzlich anderen Ansatz. Wie ist die Idee mit den GastsängerInnen entstanden?
ULF MÜLLER: Irgendwann wurde der Wunsch, so grundlegende und eingefahrene Dinge wie das Einsprechen und „Einsingen“ meiner Songs ausschließlich durch mich selbst, zu ändern, tief in mir immer intensiver; bedingt aber auch durch den Genrewechsel von experimentell-orientierter Musik mit einen hohen Anteil von düsteren Klangstrukturen und deutschen Texten zum Klangbild vom Debütalbum "By train through countries". Ich bin ja selbst alles andere als ein begnadeter Sänger und wollte diesen wichtigen Bereich Menschen überlassen, die das tatsächlich auch können. Hinzu kam, dass die Songs, die ich überwiegend als Alternative Synthpop bezeichne, Gesangsstimmen benötigten, die ich mit eigener Stimmenkraft zu keinem Zeitpunkt liefern konnte. Von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung des Albums hat der Schaffensprozess circa zweieinhalb Jahre gedauert. Das Album brauchte diese Zeit, um genau das Album zu werden, welches Du und viele andere jetzt vorliegen haben.
BODYSTYLER: Einige der GastsängerInnen hast Du durch Deine Arbeit bei einem Plattenlabel kennengelernt, einige sind jedoch nicht dort unter Vertrag. Bitte erzähle doch mal von ein paar anderen Wegen, die Du außerhalb der Echozone beschritten hast, um mit ihnen in Kontakt zu treten?
ULF MÜLLER: Natürlich war und ist es ein enormer Vorteil für mich, dass ich durch meinen Job bei BOB-MEDIA / Echozone mit vielen Musikern zusammenarbeiten darf. Insgesamt acht Sänger*innen (alle aus Deutschland) aus dieser Kreativzone veredeln fünf Songs des Albums. Dann gibt es noch acht weitere Titel, die durch „externe“ Sänger*innen aus England, Dänemark, Russland, Irland, Tschechien und Deutschland geformt wurden. Diese wunderbaren Menschen lernte ich im Internet kennen. Ich habe im Januar 2017 den NOSW Podcast gegründet. Ein Sendeformat, welches ich über Radio MIC ausstrahle und via Mixcloud für jeden zu jeder Zeit abrufbar mache. Dort präsentiere ich überwiegend alternative Musikgenres aus der ganzen Welt. Mein Fokus liegt dabei deutlich im Underground der vielen Spielarten. Es gibt so viel Wunderbares! Auf diese Weise lernte ich auch die Sänger*innen kennen und trat kurzerhand mit ihnen in Kontakt. Dafür bin ich sehr dankbar!
BODYSTYLER: Wieso sind eigentlich nur vier Sängerinnen auf Deinem Album vertreten? Ist das Zufall oder eine bewusste Entscheidung, weil Du meinst, dass Deine Songs eher für männliche Stimme geeignet sind?
ULF MÜLLER: Gute Frage. (zwinkert) Es ist eine Mischung aus bewusster Entscheidung und Zufall. Es gibt immer Songs, die entweder für männliche oder weibliche Stimmen oder für beide geschaffen sind, aber es gibt auch immer wieder Überraschungen. Ich beschreibe diesen Umstand mal kurz am Titel „Running“. Der Titel trug ursprünglich den Namen „Rot wie Rosen“ und war für die Künstlerin Katja von Kassel vorgesehen. Leider kam es aus zeitlichen Gründen nicht zu dieser Zusammenarbeit. Katja schickte diesen Song dann an unseren gemeinsamen Bekannten Erik Stein von den großartigen Cult With No Name aus London und fragte ihn, ob er eine Gesangsidee dazu entwickeln könnte. Nach zwei oder drei Tagen fand ich ein Gesangsdemo unter dem Arbeitstitel „Running“ in meinem E-Mail-Postfach und war sofort gefesselt. Erik schrieb daraufhin den Text dazu und sang den Song in seinem Home-Studio final ein. Alles andere lief dann über meinen Tisch. Das Resultat ist auf dem Album zu hören. Erik Stein singt neben „Running“ auch den Song „This Time I'm Over You“. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Cult With No Name am 11. Oktober ihr mittlerweile neuntes Studioalbum „Mediaburn“ herausgebracht haben. Für mich ein wahrer Hörgenuss.
BODYSTYLER: Hattest Du bei einigen Tracks vielleicht sogar schon beim Schreiben konkrete SängerInnen im Kopf?
ULF MÜLLER: Ja, das hatte ich bei den folgenden Tracks: "Where Are The Angels" feat. Mick L. Angelo (5TimesZero), "Little Star" feat. Catrine Christensen (SoftWave), "Thanks" feat. !distain, "The Lightman" feat. Oleg Degtiarev (Lilith My Mother), "This Time I'm Over You" feat. Erik Stein (Cult With No Name) und "Lullaby For Alisa" feat. Asia Wolf (END OF NEW).
"Die Gleise, auf denen der Zug fährt, verbinden all diese vielen Länder, Menschen, Mentalitäten, Kulturen und Landschaften mit allen anderen Mitwirkenden (ganz egal wie klein oder groß ihr Anteil war) und mir, so dass daraus das Album entstehen konnte."
BODYSTYLER: Allein der Titel des Albums projiziert natürlich bereits Bilder in den Kopf. Bist Du jemand, der gern mit dem Zug reist? Welche besonderen Erfahrungen auf den Gleisen haben Dich nachhaltig geprägt bzw. zum Album-Konzept inspiriert? Oder waren es etwa die vielen Verspätungen der Bahn, die Dir erst den Freiraum zum Komponieren/Texten ermöglicht haben? (zwinkert)
ULF MÜLLER: Mein Großvater und mein Vater waren beide ihr halbes Leben lang bei der Bahn in Lohn und Brot. Dadurch kam ich natürlich schon im frühen Kindesalter in Berührung mit Dampflokomotiven, E-Loks, Bahnreisen, Bahnhöfen und dem oftmals wunderbaren Gefühl, Zugreisender zu sein. Heutzutage fahre ich relativ selten mit dem Zug. Mein Vater und ich hatten natürlich auch eine große Modelleisenbahnanlage mit allem Drum und Dran. In meinem Zimmer war manchmal nur noch etwas Platz für mein Bett, Schreibtisch und Stuhl inklusive kleinem Durchgang, um alles zu erreichen. (lacht) Mein Vater spielte dann aber fast immer mehr als ich… Es war eine sehr schöne Zeit, in der auch der Wunsch in mir reifte, eines Tages mal, wenn ich groß bin, Lokomotivführer zu werden. Geworden bin ich dann aber Koch und später Medienkaufmann. (zwinkert) Tatsächlich handelt es sich aber um ein Konzept. Auf dem Album sind viele Sänger*innen aus ganz Europa vertreten. Die Gleise, auf denen der Zug fährt, verbinden all diese vielen Länder, Menschen, Mentalitäten, Kulturen und Landschaften mit allen anderen Mitwirkenden (ganz egal wie klein oder groß ihr Anteil war) und mir, so dass daraus das Album entstehen konnte.
BODYSTYLER: Letztendlich stammen die meisten der Texte aus Deiner Feder. Fünf jedoch sind von den beteiligten Künstlern selbst verfasst worden. Mich würde interessieren, wieviel von Deinen Gedanken Du den jeweiligen Künstlern beim Entwickeln ihrer Gesangsbeiträge mit auf den Weg gegeben hast?
ULF MÜLLER: Für mich war und ist es von Anfang an sehr wichtig gewesen, dass jeder, der mit mir an "By train through countries" arbeitet, so viele Freiheiten von mir erhält wie möglich, um seine eigene kreative Handschrift mit in die Songs einfließen zu lassen. So war es auch bei den Texten, die nicht aus meiner Feder stammten. Hin und wieder habe ich einen Arbeitstitel vorgegeben, in dem sich der Texter thematisch bewegen sollte. Was nicht mit mir geht, sind Gewaltverherrlichung und Diffamierung jeder Art sowie sexistische Textinhalte. Außerdem legte ich sehr hohen Wert darauf, dass die Sänger*innen ihre Gesangsmelodien selbst komponieren konnten. Jeder sollte so frei und kreativ wie möglich arbeiten.
BODYSTYLER: Wie bist Du eigentlich bei der Auswahl der Remixer vorgegangen? Ähnlich wie bei der Auswahl der SängerInnen?
ULF MÜLLER: Da kommt wieder meine Tätigkeit bei Echozone ins Spiel. Wir hatten uns vor ein paar Jahren entschieden, überwiegend für Bands aus den Bereichen Synthpop, Dark Electro, EBM etc. deutlich mehr Singleauskoppelungen zu realisieren als bisher und die Singles dann unter anderem mit Remixen anzureichern, um diese für Club-DJs, Fans und Presse interessanter und abwechslungsreicher zu gestalten. Mit der Zeit verfügten wir über einen unfassbaren Pool an begabten und kreativen Remixern aus der ganzen Welt, selbst aus China und Indonesien. Dieser kreative Kessel wächst von Monat zu Monat immer mehr. Da die Kommunikation federführend über meinen Tisch läuft, sprachen mich dann für meine eigenen Singleauskoppelungen immer mehr Remixer aus diesem Pool direkt an, und das Ganze nahm seinen Lauf.
"Ich bin ja selbst alles andere als ein begnadeter Sänger und wollte diesen wichtigen Bereich Menschen überlassen, die das tatsächlich auch können."
BODYSTYLER: Was kannst Du bezüglich der Entstehung der Artworks berichten? Wie erfolgte die Auswahl der Bilder einmal für die Singles und später für das Album?
ULF MÜLLER: Hier hatte ich mal wieder großes Glück. Mein Freund Markus Kühnel, welcher auch Frontmann von Elandor ist und für mich den Song „Doch das, was blieb“ eingesungen hat, hat vor einiger Zeit die Noctural Studios ins Leben gerufen. Dort produziert er unter anderem Studioaufnahmen für junge Bands, dreht und schneidet Musikvideos und erstellt auch Grafiken aller Art. So ergab sich, dass Markus für "By train through countries" das Artwork und Booklet gestaltete sowie fast alle Frontcover der Singles und alle Grafikdaten für Onlinemedien wie Facebook. Die ersten Singleauskoppelungen „Where Are The Angels [madbello-remix-edition]“, „Little Star“ und „Doch das, was blieb“ wurden von meinem Freund Tim Aßmann von Visionary Moments aus Burscheid kreiert. Außerdem realisierte Tim zu diesen Themen jeweils auch die passenden Video Snippet Previews.
BODYSTYLER: Da ich von keinem Fall gehört habe, bei dem so viele Songs eines Albums auch als Single erhältlich waren, stellt sich mir ernsthaft die Frage, ob das nicht mal einen Antrag auf Aufnahme ins Guinness Buch der Rekorde wert wäre. Schon mal darüber nachgedacht?
ULF MÜLLER: Jetzt, wo Du das erwähnst, wäre es in der Tat sehr reizvoll, einmal zu recherchieren, ob es etwas Vergleichbares schon einmal gab. Projekt Ich & Friends stellen einen Rekord auf, das wäre doch was, oder? Insgesamt gibt es neben dem Album sechszehn Singleauskoppelungen. Der Katalog umfasst insgesamt 182 Titel mit einer Gesamtspielzeit von über 16 Stunden. Das ist schon WAHNSINN! (lacht)
BODYSTYLER: Wahrscheinlich erledigt sich die Frage nach einer Live-Präsentation des Albums schon auf Grund des immensen Aufwands, der betrieben werden müsste, um alle Beteiligten an einem Ort zu versammeln. Oder hast Du vielleicht doch schon mal nachgeschaut, wo vielleicht ein geeigneter Ort dafür gelegen wäre?
ULF MÜLLER: Der Gedanke daran ist auf jeden Fall sehr reizvoll, verlockend und spannend zugleich. Ich hatte in den letzten zwei Jahren auch schon einige Booking-Anfragen von Bands, aber auch von zwei kleineren Festivals. Es freut mich natürlich sehr, dass ein gewisses Interesse daran besteht, Projekt Ich live zu erleben, aber derzeit ist in dieser Richtung nichts geplant. Es wäre in der Tat mit einem großen Aufwand und sehr hohen Kosten verbunden, alle beteiligten Künstler an einen Ort zu versammeln, um "By train through countries" uraufzuführen. Aber sag niemals nie, oder wie war das?!
Zum Schluss möchte ich mich recht herzlich bei Dir, Torsten, und dem gesamten BODYSTYLER-Team dafür bedanken, dass Ihr mir hier die Plattform gegeben habt, über Projekt Ich und mein Debütalbum zu sprechen. Außerdem möchte ich mich bei allen Lesern und musikbegeisterten Menschen bedanken und natürlich bei allen Menschen von nah und fern, die bei der Entstehung vom Projekt Ichs Debütalbum mitgewirkt haben. Ohne Euch wäre "By train through countries" nicht das, was es ist. DANKE!!
Hiermit spreche ich dem gesamten BODYSTYLER Team ein großes Kompliment für die hervorragende Arbeit für die alternative elektronische Musikszene aus. Macht weiter so!!
BODYSTYLER: Vielen, lieben Dank für diese netten, abschließenden Worte.